Haben Sportler eigentlich auch psychische Probleme? Die Antwort der Öffentlichkeit darauf war viele Jahre: NEIN. Ein Athlet ist fit, stark und nicht unterzukriegen. Das ist doch das Gewinner-Mindset, oder? Wenn man da erzählt, dass man „schwach“ ist, fliegt man womöglich aus der Mannschaft, bekommt keinen neuen Vertrag, verliert Sponsorengelder, … Die Konsequenzen kennt man vorher nicht. Aber man fürchtet sie. Deshalb sagt man nichts und versucht, seine Probleme auf eigene Faust zu lösen.
2009 beging Robert Enke, Torwart und Kapitän bei Hannover 96, Suizid. Depressionen hatten ihn dazu gebracht. Hat das was an der Situation im Sport geändert? Ja und Nein. Das Thema psychische Gesundheit oder vielmehr psychische Krankheit rückte mehr in das Licht der Öffentlichkeit. Viele sagten, „da muss man doch was tun“. Seit ca. 2010 wurde mehr Forschung in diese Richtung betrieben. Das Ziel: Symptome am besten vermeiden oder sie zumindest früh erkennen, um fatale Folgen für die Betroffenen zu vermeiden. Die Forschung brachte Zahlen hervor.
Wie steht es also um die Psyche von Sportlern? (Hinweis: Die Dunkelziffer liegt vermutlich höher)
Studie 1: 9.3 % der befragten Sportler haben Depressionen, 11.4% Burnout und 9.6% Essstörungen
Studie 2: 20 % fühlen sich allgemein seelisch belastet, 26 % haben Schlafstörungen, 34 % haben Depressionen oder Angststörungen
Damit sind Leistungssportler im Großen und Ganzen ungefähr so oft von psychischen Erkrankungen betroffen wie der Rest unserer Gesellschaft. Es gibt jedoch spezielle Ursachen für psychische Probleme im Sport. Zum Beispiel treten Essstörungen häufiger in den Sportarten auf, bei denen das Körpergewicht eine Rolle spielt (z.B. Turnen, rhythmische Sportpgymnastik, Skispringen). Perfektionistisch zu sein im eigenen Sport kann ein Risikofaktor für Depressionen sein, genauso wie körperliche Verletzungen, das Karriereende und Leistungsdruck (zudem auch Gehirnerschütterungen (3)).
In der praxis hat sich wenig getan
Wir scheinen uns in ganz kleinen Schritten in die richtige Richtung zu bewegen. Ein Beispiel: die amerikanische Weltklasseturnerin Simone Biles. Sie brach das Teamfinale bei den Olympischen Spielen 2021 mittendrin ab und bat ihre Kolleginnen, ohne sie weiterzumachen. Später gab sie bekannt, sich wegen psychischer Probleme aus dem Wettkampf zurückgezogen zu haben. Die mentale Gesundheit müsse auch bei Athleten an erster Stelle stehen, erklärte sie – und wurde dafür von der Öffentlichkeit gefeiert.
Aber dass ihre Gründe so ins Rampenlicht rückten, zeigt auch eins: Es ist eben nicht so, dass mentale Gesundheit so präsent ist wie körperliche Gesundheit. Es ist ungewiss, wann eine psychische Störung nicht mehr Aufmerksamkeit erregt als ein Kreuzbandriss. Dabei kann man psychische Probleme ähnlich wie körperliche behandeln. In beiden Fällen: Pause, Reha (im psychischen Bereich also Psychotherapie), langsam wieder an die Leistung heran trainieren, wieder einsteigen. Der Betroffene ist so leistungsfähig wie vorher.
Der deutsche Sportpsychiater Karl-Jürgen Bär sagt auf die Frage, ob es denn besser werde bei dem Abbau von Vorurteilen: „Eigentlich nicht. Nach dem Suizid von Bundesliga-Torwart Robert Enke im Jahr 2009 habe es zwar viele Lippenbekenntnisse und die Aufforderung gegeben, man müsse im Fußball auch über seelische Nöte reden. In der Praxis hat sich aber wenig getan. Der Sport fremdelt mit den Sportpsychiatern. Die Stigmata sind in der Gesellschaft, und so sind sie auch im Leistungssport.“
"Nach wie vor ist es so, dass Sportler als nicht leistungsfähig eingestuft werden, wenn sie sich mit ihrer psychischen Erkrankung outen" (Marion Sulprizio, Psychologin an der Deutschen Sporthochschule Köln)
Was also tun?
Athleten eine erste Anlaufstelle geben. Der deutsche Fußball hat das mittlerweile ganz gut verstanden. So muss an jedem Nachwuchsleistungszentrum mindestens ein Sportpsychologe angestellt sein. Das bring mehrere Vorteile mit sich: 1) Schon für die Kinder und Jugendlichen ist die Sportpsychologie und das mentale Training ein ganz normaler Bereich des Sports, so wie Krafttraining oder Physiotherapie. 2) Die Athleten müssen nicht auf eigene Faust nach einem Ansprechpartner suchen. Es steht schon jemand zur Verfügung. Leider ist der Fußball aber (noch) die Ausnahme. Vielen Vereinen steht niemand direkt zur Verfügung. Wenn sich das ändert und Vereine ihren Mitgliedern jemanden an die Seite stellen, der für sie da ist und sich im Feld der mentalen Gesundheit auskennt, erhöht das die Chance darauf, was die Forschung schon lange versucht: Sportpsychologen können dafür sorgen, dass Symptome gar nicht erst entstehen, sie erkennen, wenn sie da sind und womöglich tödliche Folgen verhindern.
Literatur
Hinweis: In diesem Blog wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint.
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